Aufsatz Meine Zeit ist mein Leben: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 18. Januar 2015, 13:20 Uhr

Meine Zeit ist mein Leben

Vorwort

Der Text "Meine Zeit ist mein Leben" ist ein Versuch, gewerkschaftlich auf die neuen Formen der Organisation der Arbeit, die so genannten neuen Managementformen zu reagieren. Er stammt aus dem Jahre 1999. In dieser Zeit hatten Betriebsräten der IBM Düsseldorf im Rahmen der "Denkanstöße" der IG Metall eine Broschüre für die Beschäftigten desselben Titels herausgegeben. Für diese Broschüre ist der Text geschrieben. Die Idee selbst verdankte sich einem Beitrag von Stephan Siemens für eine Betriebsräte-Schulung für die IG Metall 1998 in Stuttgart. Wir drucken ihn hier wieder ab, weil wir uns im Rahmen einer Auseinandersetzung mit grundlegenden Veränderungen in der Gegenwart auch mit ihm beschäftigen wollen. Dem Text ging in der Broschüre voraus eine Analyse der Abschaffung der Zeiterfassung durch die IBM Deutschland von Klaus Peters mit dem Titel: "Woher weiß ich, was ich selber will? Die Abschaffung der Stempeluhr bei IBM und die Frage nach den Interessen der Arbeitnehmer". Dieser Text ist auch im Internet verfügbar. (Der Link dazu findet sich im Veranstaltungshinweis zu der Diskussionsreihe: "Meine Zeit ist mein Leben!")

Einleitung

Die neuen Managementformen führen - wie Klaus Peters (in: "Woher weiß ich, was ich selber will"- der Text unmittelbar vor diesem Text in derselben Broschüre) gezeigt hat - zum Phänomen "Arbeiten ohne Ende". So ergibt sich die Frage: Wie können die Individuen, die in einem Unternehmen als Beschäftigte arbeiten, ihrer Arbeitszeit selber eine Grenze setzen?

Man könnte auf die Idee kommen: "Ganz einfach! Sie hören auf zu arbeiten. Punkt!" Man würde dann den Unternehmensleitungen naiver Weise glauben, dass sie mit den neuen Managementformen die Freiheit im Unternehmen eingeführt hätten. Das ist aber eine völlige Fehleinschätzung der wirklichen Lage, in die ich, der ich in einem solchen Unternehmen arbeite, versetzt werde. Denn wie Klaus Peters gezeigt hat (in dem eben aufgeführten Aufsatz) wird mein Wille, insofern ich ein Beschäftigter eines solchen Unternehmens bin, vom Unternehmenszweck kolonisiert und besetzt. Dadurch wird meine Beschäftigung mit der Frage, was ich, der ich als Beschäftigter in einem solchen Unternehmen fungiere, als Individuum wirklich will, zum Ausgangspunkt betrieblicher Interessenvertretungspolitik. Was ich wirklich will in Bezug auf meine Arbeit herauszufinden, muss ich einerseits selber tun; andererseits brauche ich dazu die Diskussion und die Solidarität der Kolleginnen und Kollegen.

I. Arbeiten ohne Ende

Durch die neuen Managementmethoden sehe ich mich in eine Situation gestellt, in der meine Arbeit kein Ende nehmen will. So ist es in gewisser Weise schon bisher. Ich übernehme dies und das, was ich im guten Falle - den ich den Normalfall zu nennen mir angewöhnt habe - in der geplanten Zeit schaffen könnte. Aber es kommt etwas dazwischen, oder es geht etwas schief. Ich hinke dem Zeitplan hinterher. Ich werde nervös, verliere die erforderliche Ruhe und Geduld. Ein Fehler, der sich gerade dann gerne einschleicht, macht mich noch nervöser. Ich werde den Zeitplan wieder nicht einhalten können. Ich habe mich verkalkuliert. Dann ist da noch die elektronische Post, die bearbeitet sein will. Sie enthält oft nebenher zu erledigende Arbeitsanforderungen, z. B. von Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht hängen lassen will. Die andere Post gibt es auch noch... Eins kommt zum anderen und hinterher habe ich zum Beispiel drei Überstunden, und weiß eigentlich gar nicht so genau, wofür ich sie verbraucht habe. Ich nehme mir das nicht vor. Ich fange an zu arbeiten und erledige, was gemacht werden muss. Es zeigt sich: Ich komme mit meiner Zeit nicht aus. Es ist nur selten möglich zu sagen: "Jetzt ist Schluss! Ich höre auf!" Entweder fällt mir gar nicht auf, dass ich Überstunden mache, und ich merke es erst hinterher. Oder ich komme nicht auf die Idee, Schluss zu machen. Selbst wenn ich auf die Idee komme, nutzt das oft nichts. Denn es gibt viele Gründe, weiter zu arbeiten. Die Termine stehen und müssen eingehalten werden. Ich will die Kolleginnen und Kollegen nicht allein lassen, zusätzlich unter Druck setzen oder ihnen gar in den Rücken fallen. Ich will den Kunden zufrieden stellen und so die Zusammenarbeit für die Zukunft angenehm gestalten oder überhaupt nur sichern. Ich will das in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen. Ich will gute Arbeit machen, weil ich auch meine eigenen Maßstäbe erfüllen möchte usw. usf. Oft arbeite ich aus solchen und ähnlichen Gründen weiter, obwohl ich weiß, dass ich eigentlich mit Rücksicht auf meine Gesundheit, auf meine Familie, auf meine eigenen Kraft und überhaupt auf mich selbst aufhören sollte.

Wenn ich das einige Zeit gemacht habe, kriege ich zu hause Schwierigkeiten, Streitereien, weil ich nie da bin. Denen möchte ich aus dem Weg gehen. Da arbeite ich lieber länger. Denn bei der Arbeit habe ich es mit Problemen zu tun, die ich lösen kann. Die Probleme zu hause werden immer unlösbarer, jedenfalls sind sie immer schwierig und oft völlig neu. Im Betrieb dagegen kenne ich die Probleme im Allgemeinen und weiß mit ihnen umzugehen. So ist es mir vielleicht ganz recht, länger bei der Arbeit zu sein, obwohl sich dadurch zu hause die Probleme verschärfen. Freunde, Hobbys und Familie verweisen zunehmend. Umgekehrt vereinsame ich mehr und mehr. Der Erfolg bei der Arbeit wird für mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl immer wichtiger. Aber er ist unter solchen Umständen auch immer schwieriger zu erreichen. Man hat sich an meine Leistung gewöhnt.

Je mehr die Probleme zunehmen, desto mehr scheint die Bereitschaft, darüber zu sprechen, abzunehmen. Denn ich bin umgeben von Leute, die "es" schaffen, die "es" hinkriegen, oder die jedenfalls erzählen dass sie "es" schaffen. Nur ich scheine damit Schwierigkeiten zu haben, die Aufgaben zu bewältigen. Höchstens im Einzelgespräch kann ich einräumen, dass ich da Probleme habe. Doch ich muss aufpassen, dass ich mir nicht selber schade. Denn wer Probleme hat, gilt als schwach und wird angegriffen; das Einräumen von Problemen schadet im Gerangel um Projekte, um Einfluss und um die eigene Position im Betrieb und unter den Kolleginnen und Kollegen. Deswegen vertusche ich die Sache am besten. So machen es doch alle, oder jedenfalls viele. Es entsteht ein Klima, in dem die wirkliche Arbeitssituation gar nicht mehr zur Sprache kommt, weil alle sich nur erzählen, wie toll sie "es" hinkriegen.

Diese Situation gab es schon bisher, als es noch geregelte Arbeitszeiten gab. Diese Regelungen sollen nun - im Rahmen der sogenannten "Vertrauensarbeitszeit" - wegfallen, damit noch mehr gearbeitet wird. Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit soll und wird verfließen. Wenn die Arbeitszeit nicht mehr geregelt ist, dann muss ich meiner Arbeit selbst ein Maß setzen. Aber die Erfahrungen zeigen, dass ich dazu nicht oder in den seltensten Fällen in der Lage bin. Denn um meine Zeit selbst einteilen zu können, müsste ich wissen, was mir gut tut, und was für mich das Richtige ist, und dann entsprechend Handeln können. Aber wie soll ich das wissen? Was ist mein Maßstab? Wer bin ich und welche Form, meine Zeit zu verbringen, ist mir angemessen? Wie kann ich mich mit solchen Fragen auseinandersetzen? Der Satz: "Meine Zeit ist mein Leben!" soll darauf eine Antwort geben. Aber bevor wir diese Antwort betrachten, machen wir einen Umweg, der als der einfachere und vielversprechendere Weg erscheint. Deswegen ist er vielleicht der bisher im Wesentlichen begangene Weg, der überdies politisch sehr erfolgreich war. Denn die Antwort auf die oben gestellten Fragen, scheint ganz einfach zu sein: Meine Zeit gehört mir! Ich möchte aber vorab schon sagen, dass diese Antwort meines Erachtens nicht ausreicht und als einzige Antwort auf die Probleme sogar falsch ist, weil sich in ihr das Problem wiederholt.

II. Meine Zeit gehört mir!

"Wer ich selber bin, das werde ich doch wohl wissen", könnte man argumentieren. "Denn ich habe doch ein Bewusstsein meiner selbst, ein Ichbewusstsein, das es mir erlaubt, mir meine Zeit frei einzuteilen. Denn meine Zeit gehört schließlich mir. Wie ich meine Zeit verbringe, das bestimme ich."

Meine Zeit ist in dieser Vorstellung eine Art noch unbestimmter Rohstoff, einem noch leeren Kalenderblatt vergleichbar, das noch frei ist und mit Terminen belegt werden kann. Die Zeit als solche schreibt mir nicht vor, wie ich sie zu verbringen habe. Nicht die Zeit bestimmt mich, so könnte man argumentieren, sondern umgekehrt: Ich bestimme, was ich in dieser Zeit mache. Die Zeit selbst ist sozusagen leer und harrt der Erfüllung durch das, was ich in ihr mache, was ich in meinen Kalender eintrage. Und das, so scheint es, liegt an mir.


II. a. Viele äußere Anforderungen an meine Zeit

Aber wenn ich das durchdenke, ergeben sich sofort Einschränkungen. Selbstverständlich muss ich mich mit zahlreichen Anforderungen auseinandersetzen, die von außen auf mich zukommen. Ich kann solche Anforderungen benutzen, um meiner Arbeitszeit eine Grenze zu setzen. Zum Beispiel habe ich auch noch Familie. ich bin nicht nur zum Arbeiten da, sondern ich muss mich auch um meine Familie und meine Kinder kümmern. Dies ist gesellschaftlich notwendig und berechtigt. Meine eigenen Eltern sind inzwischen so alt, das ich viele Dinge für sie erledigen muss. Ich habe Nachbarn und Freunde, mit denen ich den Kontakt nicht verlieren will. Vielleicht halte ich mir Haustiere, die ich versorgen und pflegen muss. Ich habe Verpflichtungen im öffentlichen Leben, bin vielleicht in Vereinen. Ich habe Hobbys, will kulturell und politisch einigermaßen auf dem Laufenden sein; und ich muss mich schließlich erholen und entspannen... Womöglich bin ich in einer politischen Partei aktiv, in der Gewerkschaft oder in einem Betriebsrat... Die Anforderungen nehmen kein Ende. So kann ich mich nicht nur um die Arbeit kümmern. Es gibt auch andere Aufgaben, die ich zu erfüllen habe.

II. a. 1. Andere gesellschaftlich berechtigte Anforderungen

In diesem Sinne kann man zum Beispiel die gewerkschaftliche Kampagne "Am Samstag gehört Papi mir!" auffassen. Eine andere - gesellschaftlich ebenso berechtigte - Anforderung an mich bringe ich gegen überbordende Anforderungen meines Unternehmens an mich als "Arbeitnehmer" in Stellung. Aus der gesellschaftlichen Berechtigung und Notwendigkeit der Kindererziehung leite ich die Berechtigung der Gegenwehr gegen die überzogene Beanspruchung durch das Unternehmen ab. Denn wenn ich auch am Samstag für das Unternehmen da sein muss, dann bin ich nicht mehr in der Lage, meinen Verpflichtungen als Vater nachzukommen, die aber gesellschaftlich betrachtet genauso wichtig und wertvoll sind. Ich kann auf diesem Wege im gewerkschaftlichen Kampf meiner Arbeitszeit eine Grenze ziehen, indem ich die Anforderungen der Kindererziehung gegen die Anforderungen in der Arbeit setze.

II. a. 2. Zeitmanagement

Auf privater Ebene stellt sich das Problem dann so dar: Wie kann ich möglichst viele solcher Anforderungen erfüllen? Da mein Zeitbudget beschränkt ist, brauche ich dafür ein "vernünftiges Zeitmanagement". Der Rohstoff Zeit muss sparsam verwendet werden. Ich muss mir selber sagen: "Jetzt reiße Dich doch mal zusammen, dann wird das schon funktionieren!" Eine solche Handlungsweise setzt mich zusätzlich unter Druck. Sie fordert von mir die individuelle Fähigkeit, mit schier unendlichen Anforderungen an mich durch die Form meiner Zeiteinteilung fertig zu werden. Statt mich auf mich selbst zu besinnen - wie es aus der Perspektive des Zeitmanagements erscheint, eine weitere Anforderung an mich, die als Zeitverschwendung erscheinen kann -, soll ich vielmehr meine Möglichkeiten, solche Anforderungen zu bedienen, effektivieren. Der "Zeitmanager in mir" sagt: "Jetzt reiße Dich doch gefälligst zusammen!" Aber wer ist das, und wie ist er, mein "innerer Zeitmanager"? Er selbst steht außer jeder Diskussion. Denn weder hat er die Anforderungen erfunden, noch sagt er mir, welche ich zu bedienen habe. Alle zu bedienen ist aber deswegen unmöglich, weil dafür schier unendlich viel Zeit erforderlich wäre. Ich komme mit dieser Strategie jedenfalls in das Problem, mich dauernd entschuldigen zu müssen, weil ich nicht alles machen kann, was ich nach diesen Anforderungen machen müsste.

So wichtig und hilfreich ein gutes Zeitmanagement ist - und ich bin persönlich in meiner Zeitplanung ziemlich chaotisch, so dass ich gut ein besseres Zeitmanagement gebrauchen könnte -, so wichtig und richtig ist es auch, dass ein Zeitmanagement bei der Frage scheitern muss, wer ich bin und was ich mit meiner Zeit anfangen kann. Philosophisch gesehen ist ein solches Scheitern positiv zu beurteilen, wenn es sich auf das Problem bezieht, sich selbst zu bestimmen durch richtige Zeiteinteilung. Ein solcher Versuch muss scheitern, er wird scheitern, und es ist auch gut so, wie sich noch zeigen wird.

II. b. Die sinnvolle Nutzung der Zeit

Aber es stellt sich auch die Frage, ob ich alle Anforderungen erfüllen soll. Dann handelt es sich nicht mehr um das Problem, wie ich möglichst viele Anforderungen erfüllen kann. Jetzt geht es darum, was für Anforderungen ich erfüllen soll, d.h. um die Frage der Bewertung dessen, was ich mit meiner Zeit sinnvollerweise anfange. Dies ist eine Frage der Beurteilung, ob meine Zeitgestaltung sinnvoll ist, nicht eine Frage des technischen Zeitmanagements. Das Zeitmanagement hilft mir bei der Frage, wie ich meine Zeit effektiv einteile; die Beurteilung der Zeiteinteilung nach dem Sinn dessen, was ich tue, beantwortet die Frage, was ich tun soll, wofür ich mir Zeit nehmen soll. Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, wenn ich Anforderungen zu bedienen versuche, die unendlich sind, die mich maßlos überfordern. Ich muss eine Auswahl treffen. Während ich im Zeitmanagement eine Anforderung gegen die andere ausspiele und dadurch jede einzelne Anforderung begrenze, stelle ich mich bei der Beurteilung meiner Zeitverwendung nach ihrem Sinn über alle Anforderungen und bewerte sie nach ihrer Bedeutung für mich. Ich frage mich: Verwende ich meine Zeit sinnvoll? Wie lange hat es für mich Sinn, dies zu tun?


II. b. 1. Ich stehe über den Anforderungen

Auch auf dem Wege der Beurteilung meiner Zeitverwendung nach ihrem Sinn kann ich meiner Arbeit im gewerkschaftlichen Kampf Grenzen setzen und damit erfolgreich sein. Wenn ich etwa sage: "35 Stunden sind genug!", dann formuliere ich einen - aus meiner Beurteilung nach dem Sinn begründeten - Anspruch auf meine Zeit, der zugleich sozial gerechtfertigt ist, weil dadurch die Chance aller auf einen Arbeitsplatz vergrößert wird. Es handelt sich um eine sozial gerechte Maßnahme. Zugleich fordere ich Zeit für mich, die ich sinnvoll verwenden kann. Dabei führe ich nicht andere Tätigkeiten an, die ich mit der gewonnenen Zeit machen kann. Ich setze auch nicht auf deren gesellschaftliche Berechtigung, sondern ich sage: Es ist genug! Ich stelle mich über die Anforderungen, und bewerte aus diesem Standpunkt die Arbeit als eine der Anforderungen. Ich ziehe gemeinsam mit anderen der Arbeitszeit eine Grenze, jenseits deren die Arbeit für mich keinen weiteren Sinn mehr hat, keine Berechtigung für meine persönliche Entwicklung. Was ich mit der übrigen Zeit mache, spielt in dieser Forderung keine Rolle. Es reicht, dass ich der Arbeitszeit eine Grenze setze. Freilich kann ich das nicht alleine tun, sondern nur in einer gemeinsamen, solidarischen gewerkschaftlichen Aktion. Diese Aktion beruht auf gemeinsamen Interessen, die eine Vereinheitlichung in der politischen Aktion ermöglichen und dadurch die Gegenmacht zu erzeugen erlauben, die zur Durchsetzung dieser Forderung notwendig war.

II. b. 2. Die Verurteilung meiner Zeitvergeudung

Privat hingegen kann ich auf dem Wege der Beurteilung meiner Zeiteinteilung nach ihrem Sinn viele Anforderungen vernachlässigen und mich dadurch entlasten. Aber es bleiben doch so viele übrig, dass ich keine Zeit vergeuden sollte. Was immer ich tue, es sollte wertvoll sein, und den Wert meiner Zeit zum Ausdruck bringen. Ich persönlich zum Beispiel zappe abends vor dem Einschlafen oft eine Stunde und mehr. (Inzwischen nicht mehr. Ich habe den Fernseher bei mir abgeschafft, vielleicht deshalb.) Zappen ist reine Zeitvergeudung und aus dem Gesichtspunkt der Beurteilung meiner Zeiteinteilung ein völlig sinnloses Verhalten, um mich gelinde auszudrücken. Ich glaube aber, das Zappen zu brauchen, um einschlafen zu können. Es dient mir dazu, abzuschalten, zu vergessen, auch zu verdrängen, was mich beunruhigt und mich so am Einschlafen hindert. Es gibt noch mehr solcher Tätigkeiten, bei denen ich mich zu entspannen glaube, die aber als reine Zeitverschwendung erscheinen, wenn ich sie unter dem Gesichtspunkt der Sinnhaftigkeit meiner Zeiteinteilung beurteile. Solche Zeitvergeudung ist zu verurteilen. Im Sinne einer solchen Verurteilung kann man - oder auch ich - mir vorhalten: "Über Deine Zeit musst Du schon selbst verfügen können. Das ist ja wohl das Mindeste, was man verlangen kann." Der nächste Schritt ist also der, dass man das Problem als ein Problem der Einzelnen ansieht und ihnen ihre Unfähigkeit vorwirft: "Wenn Du nicht in der Lage bist, Dich vernünftig zu verhalten, dann ist das Dein Problem. Das geht uns nichts an. Reiße dich gefälligst zusammen!" Ich versuche also, mich zusammenzureißen. Das geht so: Ich versuche mich derart zu terrorisieren, dass ich - gewissermaßen aus Angst vor mir selbst, vor meinem eigenen Urteil - keine Zeitvergeudung mehr zulasse. Ein solcher Versuch muss scheitern oder unglücklich machen.

Denn bei dieser Verurteilung bin Verurteiler und Verurteilter in einem: Ich bin im Widerspruch mit mir selbst. Mein Geist - so könnte ich sarkastisch scherzen - ist willig, aber mein Fleisch ist schwach. Diese Unterscheidung zwischen meinem Verhalten und meinem Urteil, ist kein Zufall, sondern der schlechte Witz der Sache, das, worauf es bei der Beurteilung dem Sinn nach ankommt. Denn der verurteilende Teil von mir selbst ist wieder, wie beim Zeitmanagement außer jeder Diskussion. Wer ich selbst bin und was ich sinnvoller Weise täte, muss ich wissen können, damit ich urteilen kann. Ein solches Wissen um mich selbst muss ich voraussetzen. Aber woher weiß ich das? Woher weiß ich, wer ich selber bin und was mich zum Handeln bewegt.

III. Meine Zeit ist mein Leben!

Sowohl beim Zeitmanagement als auch bei der Verurteilung meiner Zeitvergeudung muss ich schon wissen, wer ich bin. Das weiß ich in gewisser Weise auch, insofern ich ein Ichbewusstsein habe. Aber wenn ich die Sache durchdenke, findet ein merkwürdiges Umschlagen statt, eine Bewegung, in der ich mir zugleich neu begegne, in der ich mir nicht nur meiner bewusst bin, sondern auch anfange, mich zu erkennen.


III. a. Wer bin ich selber?

Wenn ich voraussetze, dass ich mich selber kenne, mache ich folgende Erfahrung: Zunächst habe ich unmittelbar und einfach so ein Ichbewusstsein, wie alle anderen Menschen auch. Dieses Ichbewusstsein ist allen Menschen gemeinsam. Es soll auch nicht davon abhängig sein, wie ich meine Zeit verbringe, d. h. wie ich in Wirklichkeit bin. Im Gegenteil: Das Ichbewusstsein soll bestimmen, wie ich meine Zeit verbringe und was ich mit meiner Zeit anfange, wie ich also in Wirklichkeit bin. Wie ich in Wirklichkeit bin, so bin ich unterschieden von allen anderen Menschen; denn in Wirklichkeit bin ich anders als alle andern Menschen. Dieser Unterschied stellt sich darin dar, wie ich meine Zeit verbringe. Und so soll es bei allen anderen Menschen auch sein. Die Menschen sollen selbst bestimmen, wie sie in Wirklichkeit sind, wie sie sich voneinander unterscheiden. Deshalb scheinen die Menschen auch frei zu sein. Dass ich das nicht kann, schiebe ich auf meine Inkonsequenz im Zeitmanagement oder darauf, dass ich im Vermeiden von Zeitvergeudung nicht Durchsetzungsfähig genug bin. Ich habe nicht die Kraft zur sinnvollen Zeitverwendung. Ich denke mir: Als Mensch sollte ich das eigentlich können. Aber ich im Speziellen kann es nicht, weil ich nicht geübt genug bin, nicht konsequent genug... etc. Im Gespräch mit anderen freilich erlaube ich mir, so zu tun, als ob das bei mir klappen würde... Man gönnt sich ja sonst nichts. Damit halte ich die Illusion aufrecht, das die Menschen das eigentlich können müssten.

Aber an dieser Stelle lohnt sich eine Überlegung: Ist es denn gut, wenn es klappt? Beim Zeitmanagement und bei der Beurteilung meiner Zeitverwendung versucht mein Ichbewusstsein einen wachsenden Einfluss auf meine wirkliche Zeitgestaltung zu gewinnen. Es trifft dabei auf einen Widerstand, der den Erfolg immer wieder einschränkt und behindert. Wenn ich mir das klarmache, stellt sich heraus, das mein Leben gar nicht darauf gewartet hat, vom Ichbewusstsein in dieser Weise bestimmt zu werden. Mein Leben findet in gewisser Weise schon statt und hat seine eigene Zeiteinteilung, die dem Versuch des Ichbewusstseins, meine Zeit zu bestimmen, als ein Widerstand entgegen tritt. Bei der Inkonsequenz im Zeitmanagement, bei der Mangelhaftigkeit der Zeitvergeudung, bei dem "schwachen Fleisch" handelt es sich darum, wie ich meine Zeit wirklich verbringe.

Diese Entdeckung führt mich zu mir, wie ich wirklich bin, wie sich mein Leben in der Zeit darstellt. Es stellt sich heraus, dass mein Leben schon bestimmt ist, bevor mein Ichbewusstsein auf die Idee kommt, dass meine Zeit mir gehört, und dass ich sie im Selbstmanagement bestimmen oder in ihrer Einstellung beurteilen könnte. Das Ichbewusstsein ist einfach so da. Aber es enthält keine Erkenntnis meiner selbst, keine Erkenntnis, wie ich wirklich bin. Wie ich wirklich bin, erscheint deswegen als ein Widerstand, auf den ich bei dem Versuch treffe, mich selbst in meiner Wirklichkeit zu bestimmen. So werde ich auf diesem Wege zu dem Satz geführt: Meine Zeit ist mein Leben!


III. b. Meine Zeit ist mein Leben! - Eine Feststellung

Meine Zeit ist mein Leben! Dieser Satz ist zunächst eine Feststellung, keine Forderung. Diese Feststellung ist unwidersprechlich wahr. Es kann keiner kommen und sagen: Dieser Satz stimmt nicht. Der Satz ist wahr. Es kann auch keiner sagen: Verschieben Sie Ihr Leben. Leben Sie später, zum Beispiel, wenn Sie einen Aufhebungsvertrag unterschrieben haben. Ich lebe jetzt, immer jetzt, und ich habe nur ein Leben. Mein Leben kann ich nicht verschieben. Ich könnte es ja nur in meiner Zeit verschieben, und meine Zeit ist mein Leben.

Aber dieser Satz ist nicht nur wahr, er stößt auch Überlegungen an. Wenn meine Zeit mein Leben ist, dann ist die Art, wie ich meine Zeit verbringe, eine Darstellung meines Lebens und also meiner selbst. Ich kann deswegen durch Nachdenken und Sprechen mit Anderen darüber, wie ich meine Zeit verbringe, auf einem Umweg mich selbst kennenlernen, zur Erkenntnis meiner selbst gelangen. Meine Zeit ist kein unbestimmter Rohstoff mehr, der stört. Sie ist nicht wie ein leeres Kalenderblatt, das auf Eintragungen meines Ichbewusstseins wartet. In Wirklichkeit stellt sich in der Zeit dar, wer ich wirklich bin. Wenn ich mich damit beschäftige, wie ich meine Zeit wirklich verbringe, dann erkenne ich mich selbst, wie ich im Unterschied zu allen anderen Menschen bin. Dann lerne ich verstehen, welche Kräfte und Anforderungen auf mich einwirken, welche Mächte mein wirkliches Verhalten bestimmen, welche Funktionen ich wirklich bediene und erfülle, und wie ich mich mit ihnen arrangiere oder auch nicht. Ich verlasse mich nicht auf mein unmittelbares Ichbewusstsein, das bestimmen soll, wie ich zu sein habe, sondern setze voraus, dass ich schon jemand Bestimmtes bin, bevor mein Ichbewusstsein zu entscheiden versucht, wie ich zu sein habe. Ich verurteile nicht mehr meine Zeitverschwendung, sondern beschäftige mich damit, warum ich das tue, was ich tue. Denn ich möchte in wachsendem Maße verstehen, wie ich in Wirklichkeit - durch welche Mächte, Kräfte und Funktionsweisen, die als äußere und fremde Anforderungen an mich auftreten - bestimmt bin. Dies herauszufinden, ist nur möglich mit Anderen zusammen, im Gespräch mit Menschen, die mir zuhören, mich ernst nehmen und mich deswegen mit ihren Erfahrungen mit mir konfrontieren.

Der erste Anstoß zur Überlegung führt also dazu, die Fragerichtung umzukehren. Ich frage nicht: Was muss ich tun? oder: Wie schaffe ich das?, sondern ich frage: Wie verbringe ich meine Zeit? Welche Kräfte und Mächte bestimmen mich also. Auf diese Art merke ich, wie sehr ich in meinem Handeln zum Beispiel vom Unternehmenszweck bestimmt bin. Ich kann mich in mir täuschen. Deswegen ist das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig, die mich in meinem Selbstbild korrigieren. Wie ich mich in meinem Leben wirklich darstelle, d. h. wie ich meine Zeit verbringe, das erfasse ich im Prozess der Selbsterkenntnis. Was beim Zeitmanagement stört, und bei der Zeitbeurteilung verurteilt wird, das bin ich selbst, wie ich in Wirklichkeit bin. Wenn Zeitmanagement und Zeitbeurteilung, die Aufgabe nicht lösen, die ihnen mein Ichbewusstsein zuweist, dann ist das etwas Gutes, weil es mich zur Erkenntnis meiner selbst und der mich in meiner Zeitgestaltung bestimmenden Kräfte führt. Dabei wird der Unternehmenszweck als eine dieser Kräfte sichtbar.

III. c. Meine Zeit ist mein Leben! - Ein Maßstab meines Tuns

Wie ich wirklich bin, das ist entscheidend für die Beantwortung der Frage, was für mich das Angemessene ist. Was für mich das Richtige ist, das hängt davon ab, wer und wie ich wirklich selber bin - und ich bin anders als alle anderen Menschen. Dieser Unterschied zu allen anderen Menschen, der stellt sich - sofern er sich darstellen kann und nicht unterdrückt ist - in der Zeit dar. Deswegen gewinne ich über den Umweg meiner Beschäftigung mit meiner wirklichen Zeitgestaltung Erkenntnisse über mich selbst, die mir zugleich einen Maßstab geben, was für mich das Richtige ist. Das weiß ich nun nicht mehr unmittelbar, sondern ich versuche das, über einen Umweg herauszukriegen. Dieser Umweg führt über die Frage, wie sich mein Leben in der Zeit darstellt.

Denn der Satz "Meine Zeit ist mein Leben!" stößt auch eine zweite Überlegung an. Der Maßstab meines Tuns bin ich selber (aber ich nicht, wie ich mich als souverän über meine Zeit bestimmend voraussetze, sondern wie ich wirklich bin).Denn in dem Wort "mein" steckt auch ein Anspruch, dass das, was in meiner Zeit geschieht, auch wirklich die Darstellung meiner selbst, meiner Individualität ist; dass das, was sich in meiner Zeit abspielt, auch wirklich mein Leben ist, ein Leben ist, zu dem ich sagen kann: Das ist mein Leben! In welchem Maße ist das in meinem Leben sichtbar, dass es mein Leben ist? Inwiefern ist die bei der Arbeit verbrachte Zeit ein Bestandteil meines Lebens, den ich als Teil meines Lebens anerkennen kann? Wenn mich tatsächlich in meiner Arbeitszeitgestaltung im Wesentlichen äußere und fremde Mächte bestimmen, dann ist der Arbeitsalltag im Gegenteil davon gekennzeichnet, dass er nicht Ausdruck meines Lebens ist. Der Arbeitsalltag ist , wie es scheint, nicht in diesem Sinne Teil meines Lebens, also nicht Teil eines Lebens, das ich als mein Leben anerkennen kann. Er ist mir fremd. Diese Fremdheit, mit der ich mich längst abgefunden habe, ragt in mein Leben hinein und verunmöglicht mir, zu sagen: Dies ist mein Leben! im Sinne von: Die bei der Arbeit verbrachte Zeit ist Teil meines Lebens, Teil eines Lebens, das ich als mein Leben anerkennen kann. Dadurch stößt der Satz mich an, zu durchdenken, wie sich meine Arbeitszeit gestaltet, welche Umstände auf sie einwirken, und ob und inwieweit ich in der Lage bin, die Arbeitszeit als Darstellung meines Lebens zu akzeptieren. Sollte das nicht der Fall sein, so ergibt sich ein Widerspruch: Meine Zeit ist mein Leben, das ist eine Tatsache, und die Zeit, die ich mit Arbeiten verbringe, gehört dazu und nimmt sogar einen großen Teil dieser Zeit ein. Umgekehrt ist der Satz "Meine Zeit ist mein Leben!" auch eine Maßstab. So entsteht die Frage: Kann ich die bei der Arbeit verbrachte Zeit als Teil meines Lebens anerkennen? Wenn nicht, dann klaffen die beiden Bedeutungen des Satzes auseinander. Es zeigt sich ein Widerspruch: In meinem Leben - in meinem einzigen Leben - kommt die Tatsache, dass es sich um mein Leben handelt, nur begrenzt zum Ausdruck.

Dabei kann es nicht bleiben. Ich frage mich, woran das liegt und beschäftige mich mit den Ursachen dafür, warum das so ist. Damit werde ich auf die Probleme gestoßen, die mit den Formen der Arbeitsorganisation verbunden sind, und die im Beitrag von Klaus Peters zu dieser Broschüre "Woher weiß ich, was ich selber will?" diskutiert werden. Die beiden Bedeutungen des Satzes "Meine Zeit ist mein Leben!", eine wahre Feststellung zu sein, und zugleich einen Anspruch an mein Leben zu formulieren, führen dazu, dass ich beim Durchdenken dieses Satzes immer wieder von der einen Seite zur anderen gehe und so in eine Bewegung gelange, die mich zu einer Auseinandersetzung mit mir selbst führt.

Andererseits sind aber die Ursachen dieser Probleme - wie die Analyse von Klaus Peters zeigt - nicht in erster Linie bei mir zu suchen, sondern bei den - teilweise vom Unternehmen gesetzten - Rahmenbedingungen, unter denen ich in meiner Arbeit handeln muss. Meine Beschäftigung mit den Ursachen muss sich auch auf die Rahmenbedingungen und ihre "Indirekte Steuerung" beziehen. Aber gerade diese Rahmenbedingungen setzen mich unter einen so gewaltigen Druck, dass mir die Zeit für solche Reflexionsprozesse fehlt. Zudem zielt die "indirekte Steuerung" auf meinen Willen und damit auf mein Denken selbst. Die "indirekte Steuerung" organisiert meine geistige Unterordnung unter den Unternehmenszweck, die - immer wachsende - Gewinnproduktion, die Steigerung des Profits. Dadurch gerate ich in eine Ohnmacht in Bezug auf mein eigenes Denken, das sich gegen mich zu wenden scheint. Wie kann ich mich mit dieser Ohnmacht auseinandersetzen?

IV. Besinnung als politische Aktionsform

Die Auseinandersetzung mit dem Satz: "Meine Zeit ist mein Leben!" hat mich zu dem Problem geführt, dass mein Leben unter den Bedingungen der neuen Managementformen durch mir fremde Mächte und Kräfte bestimmt wird. die es mir nur begrenzt möglich machen, mein Leben als Ausdruck meiner selbst, meiner Individualität anzuerkennen. Daraus ergibt sich für mich das Interesse, meine Individualität in meinem Leben zunehmend zur Geltung zu bringen. Durch die "indirekte Steuerung" soll mir jedoch der Unternehmenszweck als mein eigener Wille suggeriert werden. So will die Unternehmensleitung mein Handeln und Denken - mir unbewusst - indirekt, aber umso nachhaltiger, beeinflussen. Dem kann ich mich entziehen, wenn ich mich mit mir selbst, mit meinem eigenen Denken auseinanderzusetzen lerne. Aber dazu fehlen mir als Einzelnem die theoretischen Mittel, die organisatorischen Möglichkeiten und die politische Durchsetzungsfähigkeit für eine Diskussion, die mir - gemeinsam mit anderen - Selbstverständigung ermöglicht. In allen diesen Punkten bin ich als Einzelner überfordert. Hier gewinnt der Betriebsrat eine neue Bedeutung. Er kann solche Diskussionen zur Selbstverständigung im Betrieb theoretisch ermöglichen, sie organisieren und politisch realisieren. So kann der Betriebsrat mir helfen, mir die Rahmenbedingungen meines Handelns bewusst zu machen. Er schafft mir damit die Möglichkeit, mir die von selbst ablaufenden Prozesse anzueignen, bzw. damit anzufangen. Denn diese Prozesse sind ja nichts anderes als unser - uns unbewusst bleibendes - Verhalten zueinander. Die IBM-Betriebsräte haben eine solche Selbstverständigungsdiskussion organisiert und sie gegen die Besinnungslosigkeit des Arbeitsdrucks politisch durchgesetzt. Sie haben sie "Besinnung" genannt und dafür die Aktionsform "Monat der Besinnung" entwickelt, die in den Jahren 1997 und 1998 stattgefunden haben. (Diese Aktionsmonate wurden in der Broschüre teilweise dokumentiert.) 1997 wurde die Notwendigkeit der Besinnung überhaupt betont. Der Monat der Besinnung hatte das Motto: "IBM - Ich besinne mich". 1998 wurde konkret die Arbeitszeit in den Mittelpunkt des Monats der Besinnung gerückt: "Meine Zeit ist mein Leben!"


IV. a. Theoretische Diskussion als politische Aktion

Aus den neuen Managementformen ergibt sich die Gefahr, dass ich mich bewusst oder unbewusst mit der Funktionszuweisung, die mir im Ganzen des Unternehmens zukommt, identifiziere. Ich würde mich dann selbst nur noch - oder doch in erster Linie - als "Professional" verstehen. Ich würde zwischen mir selbst und der Funktionszuweisung, die mir im Betrieb zukommt, keinen Unterschied mehr machen. Ich kann mich dann mit dieser Funktionszuweisung nicht mehr auseinandersetzen. Ich nehme mich selbst nur noch als "Professional", als Mensch vom Fach, als Servicegeber ernst. So ordne ich mich selbst, ohne es zu merken, einem Funktionszusammenhang unter, in dem es auf meine Individualität, auf mich selbst und meine Lage nicht ankommt. Dieser Funktionszusammenhang wird mir als eine Welt, als "die Welt der IBM" zum Beispiel, dargeboten. In dieser Welt kann ich Probleme vermeiden, auf die ich durch die Besinnung auf mich selbst umgekehrt gerade stoße. Auf die Frage "Wer bin ich?" könnte die Antwort dann lauten: "Ich bin IBMer! Das ist doch was. Viele wären froh, wenn sie bei IBM arbeiten könnten." Aber Ausgliederungen, nun auch von ehemaligen "Kernbereichen", Aufhebungsverträge und vergleichbare Aktionen der Unternehmensleitung machen ein Selbstverständnis als IBMer mehr und mehr zur Illusion. Denn meine Funktion ebenso wie meine Stellung im Funktionszusammenhang sind ständig gefährdet. Es liegt nicht an mir, ob ich ausgegliedert werde. So wäre mein Selbstverständnis als IBMer abhängig von Bedingungen, die in der Macht der Unternehmensleitung liegen. Sie nötigt mich - durch Ausgliederungen von Arbeitsbereichen und Hinausdrängen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwa, weil sie ein bestimmtes Alter erreicht haben - zur Erarbeitung eines individuellen Selbstverständnisses. Das kann ich in dieser Situation nur gewinnen, wenn ich mich als Individuum mit meiner Funktion und dem Funktionszusammenhang, also dem Unternehmen auseinandersetze, das mir die Funktion als mein Selbstverständnis aufdrängen will.

Eine solche Auseinandersetzung mit meiner Funktion geht mit der Besinnung im Betrieb einher. Unter dieser Voraussetzung, sich mit ihrer Funktion auseinanderzusetzen, handeln auch die Mitglieder des Betriebsrats. Denn bisher ist es oft so, dass der Betriebsrat - als eine Art betriebspolitischer Experte - die Interessen der Beschäftigten im Betrieb formuliert und sich - wenn möglich stellvertretend - um die Belange der Beschäftigten, also auch um meine, gekümmert hat. Diese Aufgabe bleibt bestehen, denn die zu regelnden Probleme werden nicht weniger, sondern mehr, wie sich tagtäglich zeigt. Aber in der grundlegenden Frage der Zeitgestaltung und Zeiteinteilung, die mit dem Satz "Meine Zeit ist mein Leben!" angesprochen ist, sind die Mitglieder des Betriebsrates in keiner anderen Situation wie die Beschäftigten selbst. (Da dieser Sachverhalt oft nicht richtig aufgefasst wird, füge ich einen Satz ein: Die Mitglieder des Betriebsrates haben nicht nur dieselben Interessen wie die Beschäftigten. Das war auch bisher so. Dieses Mal geht des nicht um dieselben Interessen, sondern um dasselbe Verhältnis zwischen ihrer Funktion als Betriebsrat und ihrer Individualität, also dem, was sie nicht mit anderen gemein haben. Denn sie unterscheiden sich als Individuen von den anderen Individuen. Gleich sind sie nur, insofern dieser Unterschied für die Funktion keine Rolle spielen soll.) Betriebsratsarbeit kostet zusätzlich Zeit. Deswegen können sich Betriebsräte in der neuen Form der Arbeitsorganisation an mich als Individuum nur wenden, wenn sie zugleich sich selbst als Individuen mit diesen Problemen auseinandersetzen. Wenn ich jedoch vom Betriebsrat als Mitarbeiter des Unternehmens angesprochen werde, dann werde ich auch reagieren wie ein Mitarbeiter eines Unternehmens, das auf seine Probleme angesprochen wird. Ich werde sagen: "Ich als 'Highperformer' habe keine Probleme, aber ich kenne da Leute, die Probleme haben ..." Warum sollte ich mich öffnen und eine Verurteilung riskieren, wenn derjenige, der mich anspricht, sich hinter seiner Funktion als Betriebsrat versteckt. Wenn er mit mir als Individuum spricht, dann spreche (vielleicht, sicher ist das nicht, aber immerhin die Möglichkeit besteht) auch ich mit ihm als Individuum. Sonst antworte ich ihm als Mitarbeiter, der seinem Betriebsrat antwortet. Denn ein Einräumen von Problemen kann eine Schwächung meiner Position im Gerangel um Projekte und Einfluss im Unternehmen bedeuten. Deswegen werde ich über Probleme nur sprechen, wenn ich mir sicher sein kann, dass mir das keine handfesten Nachteile bringt.

Um mich mit den Prozessen der "indirekten Steuerung" und ihren Auswirkungen auf mein eigenes Denken und Handeln zu beschäftigen, muss ich sie verstehen lernen. Ich möchte begreifen, was unter solchen Bedingungen mit mir geschieht. Dazu brauche ich neue theoretische Überlegungen, die mich in die Lage versetzen, die Auswirkungen der "indirekten Steuerung" auf mich selbst zu erfassen. Solche Überlegungen, wie sie diese Broschüre enthält, können im Betrieb diskutiert werden, wenn der Betriebsrat das initiiert. Denn in solchen Überlegungen wie den hier vorgetragenen löse ich mich von der geistigen Beeinflussung und Hegemonie der die Arbeitsprozesse beherrschenden Mechanismen und deren "indirekter Steuerung". Eine solche Loslösung ist notwendig für die Entwicklung eines Bewusstseins meiner selbst, das mich in die Lage versetzt, mich von meiner Funktion zu unterscheiden. Das kann mir einen Zugang zu meinem wirklich eigenen Willen eröffnen, also dazu, herauszufinden, was das mir wirklich Angemessene ist. Solche Diskussionen zur Selbstverständigung sind deswegen selbst schon ein politischer Schritt, ein Schritt zur Befreiung aus der geistigen Umklammerung durch die "indirekt gesteuerten" Prozesse im Unternehmen.

Das Ziel solcher Diskussionen kann nur sein, zu mir zu kommen. Das bedeutet, dass die Maßstäbe der - die allgemeine Täuschung aufrecht erhaltenden - "High-Performance"-Geschichten durchbrochen werden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass meine wirkliche Arbeitssituation zur Sprache kommen kann. Die Maßstäbe der Erfolgsgeschichten dominieren aber nicht nur das Klima zwischen den Menschen im Betrieb, sondern sie bestimmen auch mein eigenes Denken. In der Diskussion muss ich mich daher mit meinem eigenen Denken auseinandersetzen können.

Die Erfahrungen bei IBM haben gezeigt, dass eine solche theoretischen Diskussionen auch deshalb selbst schon eine politische Aktion sind, weil die Zeit und die Unterbrechung des Arbeitsdrucks, die für solche Diskussionen notwendig sind, nur auf politischem Wege durchgesetzt werden können. Dafür bedarf es einer Initiative des Betriebsrats.


IV. b. Die Beispieldiskussion

Aber es kann doch nicht sein, dass jeder und jede Einzelne erst die theoretische Diskussion führen muss, damit er oder sie sich mit sich auseinandersetzen kann. Wie kann ich also eine solche Selbstverständigungsdiskussion öffentlich beginnen? In der Kantine oder beim Kaffee finden gelegentlich solche Gespräche über die Überlastung bei der Arbeit statt, meistens zu zweit oder zu dritt, im vertrauten Rahmen. Denn ich und die Kolleginnen und Kollegen müssen aufpassen, was wir sagen und zu wem wir es sagen. So ist die Nichtöffentlichkeit, das Geheime, ein Schutz und damit eine wesentliche Voraussetzung solcher Gespräche. Wirksamkeit im Betrieb entfalten die Inhalte solcher Gespräche aber nur, wenn sie öffentlich geführt und dokumentiert werden. Wie kann ich die Diskussion in einer Form führen, die es erlaubt, wirklich die eigenen Probleme und Interessen zu formulieren, ohne sich selbst im Unternehmen zusätzlich zu gefährden?

Bei IBM hat sich die Form einer E-Mail-Diskussion bewährt, in der anonymisierte Diskussionsbeiträge von im Unternehmen beschäftigten Individuen veröffentlicht wurden. Denn durch die Anonymität setze ich mich nicht der Gefahr aus, Nachteile für das, was ich sage, in Kauf nehmen zu müssen. Außerdem kann ich auf ein gewisses Verständnis, auf Solidarität hoffen, wenn ich mich im Rahmen einer vom Betriebsrat initiierten E-Mail-Diskussion äußere.

Entscheidend für den Weg, die Diskussion zu beginnen, ist der Text , der den Anstoß zur Diskussion gibt. In solchen Texten stellt einerseits jemand seine Situation als ein Beispiel dar und setzt damit den Maßstab für das, was in der Diskussion zur Sprache kommen kann. Andererseits gibt ein solcher Text ein Beispiel und damit einen Anstoß, ähnliche Reflexionen über die eigene Arbeitssituation anzustellen und in der E-Mail-Diskussion darzustellen. Damit wird die Lage, wie sie von den Beschäftigten erlebt wird, dokumentiert. Im letzten Teil dieser Broschüre sind Beispieltexte abgedruckt, die eine solche Anstoßfunktion hatten. Als besonders geeignet stellt sich der Text "Meine Arbeit als Projektleiterin" dar. (Dieser Text war Teil der Broschüre.)

In diesem Text stellt eine Projektleiterin anonym ihre Arbeitssituation so dar, wie sie ihr vorkommt, wie sie sie erfährt und wie sie sie beurteilt. Sie stellt sich somit selbst als ein Beispiel dar. Diese Schilderung ist realistisch, aber auch ehrlich und schonungslos. Der Text enthält eine Auseinandersetzung mit dem eignen Tun als Projektleiterin und damit zugleich mit dem Rahmen, in dem dieses Tun steht, mit der "Welt des Unternehmens". Zu einer solchen Schonungslosigkeit gehört die Souveränität der Autorin, die ihre eigene Ohnmacht formulieren kann, ohne sich dabei mit der Macht der Gegenseite zu identifizieren. Diese Souveränität setzt sie gegen die - meines Erachtens falsche - vorausgesetzte Souveränität dessen und deren, die sich in der Lage glaubt, über seine oder ihre Zeit frei verfügen zu können, und "es " zu schaffen. Der Beispiel-Text ermutigt deswegen die Leserinnen und Leser durch seinen Inhalt und durch seine Form dazu, ihrerseits entsprechende Reflexionen anzustellen. Zugleich räumt er die Möglichkeit zu Stellungnahmen ein. Einige Stellungnahmen waren weniger erfreulich. Sie versuchten, die geltenden Erfolgsmaßstäbe gegen die Reflexion der eigenen Lage in Stellung zu bringen. So erfordert diese Form der Diskussion auch eine Auseinandersetzung mit den üblichen Kommunikationsformen, in denen die Diagnose eigener wirklicher Ohnmacht als Schwäche erscheint. Für die auf einen solchen Text folgende Diskussion bedarf es daher der schützenden Gegenmacht des Betriebsrates, der an die Stelle des Schutzes der Nicht-Öffentlichkeit, der Anonymität, tritt, sowie der Solidarität der Kolleginnen und Kollegen.

Die so entstehende Solidarität beruht nicht in erster Linie, wie bisher auf der Gemeinsamkeit der im Betrieb beschäftigten Individuen, sondern umgekehrt auf ihrer Unterschiedenheit. Denn diese Unterschiede können sich in der Diskussion darstellen, ohne dass dadurch die Solidarität gefährdet wird. Im Gegenteil besteht diese Form der Solidarität gerade darin, dass sich die Individualität und die Unterschiedenheit der Individuen darstellen kann, wie sie ist. Sie finden das Interesse und die Anerkennung der anderen Individuen, weil sich alle Individuen mit der Gleichmacherei im Unternehmen auseinandersetzen.

In einer so gearteten Diskussion entsteht ein Bild des Unternehmens aus den verschiedenen Blickwinkeln der Kolleginnen und Kollegen, eine Art Unternehmensanalyse, die auch von so gut wie allen im Betrieb akzeptiert wird. Dadurch hat eine solche Diskussion zugleich einen politischen Effekt, weil die Realität in einer Weise zur Sprache kommt, die nicht durch Angst und Einschüchterung charakterisiert ist. Eine solche E-Mail-Diskussion stellt zugleich schon selbst eine politische Aktion dar: Eine Analyse des Unternehmens als politische Aktion der Beschäftigten selbst. So verschaffen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen eigenen Blick für die Wirklichkeit ihres Unternehmens. Sie eignen sich die Interpretationsgewalt über ihre eigene Situation bei der Arbeit an. Wer die Interpretationsgewalt im Unternehmen hat, der kann auch die geistige Hegemonie in den Betrieben des Unternehmens gewinnen.


IV. c. Die Durchsetzung in der betrieblichen Öffentlichkeit

Die E-Mail-Diskussion bestimmt schon das Klima im Unternehmen stark mit, weil sich in ihr dokumentiert, wie die im Unternehmen beschäftigten Individuen ihre Lage im Unternehmen - und damit das Unternehmen selbst - sehen. Damit entwickelt sich das politische Klima und die Möglichkeit, dass ich in von Betriebsräten organisierten Foren und Gesprächsrunden selbst meine individuelle Situation und meine Interessen öffentlich reflektieren und darstellen kann. Dieser Schritt ist in den "Monaten der Besinnung" ansatzweise, vor allem aber bei Teambesprechungen gelungen. Er ist aber schwierig und setzt ein hohes Maß an (Selbst-)Vertrauen voraus. Deswegen muss er politisch gut vorbereitet sein. Denn es besteht die Gefahr, dass solche Gespräche in Formen vor sich gehen, die von den Verhältnissen von Servicegeber und Servicenehmer im Unternehmen bestimmt sind. Das ist nicht mein Interesse. Denn in solchen Gesprächen will ich mich mit diesen Verhältnissen, die von selbst entstehen, gerade mit den anderen Individuen auseinandersetzen. Ich will lernen, sie zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen zu verstehen. Denn je mehr ich die Verhältnisse unter uns verstehe, desto her bin ich in der Lage, sie mir anzueignen. Dadurch eröffnet sich die Perspektive, an die Stelle von Verhältnissen von Servicenehmern und Servicegebern mehr und mehr Verhältnisse zwischen Individuen zu setzen, d.h. Verhältnisse, die den Individuen, die in ihnen stehen, angemessen sind. Denn diese Verhältnisse sind ja nichts anderes als das Verhalten der Individuen zueinander. Damit würde ein erster Schritt gemacht, der "indirekten Steuerung" in wachsendem Maße die Mittel zu entreißen, mit der sie den Druck auf die im Unternehmen Beschäftigten aufrecht zu erhalten versucht. Das ist die Perspektive, in der die Aktionsform der Besinnung steht.


IV. d. Die Notwendigkeit von Gegenmacht im Betrieb

Von Anfang an, schon bei der Organisierung der theoretischen Diskussion, zeigte sich: Betriebliche Gegenmacht ist notwendig, wenn ich diesen Weg gehen will. Die Diskussion ist nur möglich, wenn der permanent überfordernde Arbeitsdruck politisch unterbrochen wird. Ich brauche Zeit und Raum für die Besinnung. Beides habe ich nicht, wenn es nicht vom Betriebsrat politisch durchgesetzt wird. Außerdem zielt die Diskussion darauf, mich mit meinem eigenen Denken auseinanderzusetzen. Damit ringe ich gegen die "indirekte Steuerung" und gegen die Unwillkürlichkeit der Verhältnisse bei der Arbeit um geistige Eigenständigkeit. Ich versuche mich der "indirekten Steuerung" zu entwinden und zu mir selbst zu finden. Das ist ein Versuch der geistigen Befreiung. Auch der setzt einen politisch durchgesetzten Freirum voraus.

Die E-Mail-Diskussion ist technisch und praktisch abhängig von politischen Initiativen von Mitgliedern des Betriebsrats. Sie beginnen die Diskussion und führen sie durch. Sie anonymisieren die Beiträge, stellen sie ins (Intra-)Netz und veröffentliche sie gegebenenfalls auf Papier. Der realistische und ermutigende Charakter der Beispieltexte, die die Diskussion anstoßen, wird von den Mitgliedern des Betriebsrats beurteilt und gewährleistet. Mitglieder des Betriebsrates setzen die Diskussion als solche politisch durch. Sie nutzen die Diskussion als Betriebsanalyse nicht nur für die eigene Arbeit, sondern auch in der Auseinandersetzung im Betrieb. So verschaffen sie den Diskussionen politisch die Bedeutung, die sie haben, nämlich der wirkliche Ausdruck der Arbeitssituation der Beschäftigten im Unternehmen zu sein. Damit setzen die Betriebsratsmitglieder zugleich diese E-Mail-Diskussion als die Interpretation der Realität des Betriebs in der politischen Öffentlichkeit durch. So verschaffen sie sich die Interpretationsgewalt und mit der Zeit auch die geistige Hegemonie im Betrieb.

Schließlich initiieren die Betriebsratsmitglieder mit den Gesprächsrunden und den öffentlichen Diskussionen einen Prozess der Aneignung der Verhältnisse der Individuen im Betrieb zueinander. Damit betreten sie einen Weg, der in der Tendenz darauf zielt, der "indirekten Steuerung" und denen, die sich ihrer bedienen, ihre Mittel aus der Hand zu schlagen. Dieser Schritt setzt bereits eine weitgehende Durchsetzung des neuen Weges im politischen Klima des Unternehmens voraus. Deswegen sind alle diese Schritte selbst nicht nur Vorbereitung der politischen Auseinandersetzung, sondern gehören selbst unmittelbar schon dazu.

Man könnte einwenden: "Aber ich will nicht nur reden, auch wenn das schon politisch ist. Ich will substanzielle Veränderungen durchsetzen. Dazu ist entschlossenes organisiertes Handeln nötig. Da reicht Reden nicht."

Dem stimme ich zu. Aber einerseits wird durch eine solche Form des Diskutierens als politischer Aktion wieder Interesse für Betriebspolitik geweckt, wie die in Dokumentation dargestellte Erfahrung zeigt. Mit dem Interesse wächst auch die Fähigkeit und das Bedürfnis politisch zu handeln. Andererseits aber stehen wir am Anfang neuer Auseinandersetzungen, und damit auch am Anfang der Entwicklung der ihr entsprechenden politischen Handlungsformen. Über die richtigen und angemessenen Handlungsformen werden wir nachdenken müssen; das sollten wir tun. Denn es ist nicht mein Interesse, den neuen Auseinandersetzungen auszuweichen, weil wir noch nicht wissen, mit welchen Handlungsformen wir sie bestehen können. (Womöglich sind es die bekannten Handlungsformen, die die Arbeiterbewegung immer schon verwendet hat, mit einem neuen Gesicht. Das ist sehr wahrscheinlich.) Die neuen Handlungsformen werden in den Diskussionen entwickelt, die durch eine Initiative wie die Besinnung auf "Meine Zeit ist mein Leben!" angestoßen werden. An solchen Initiativen habe ich ein Interesse, persönlich wie politisch. Das Zusammenkommen von beidem macht den Pfiff der Sache aus. Wie im richtigen Leben. Es geht um Betriebspolitik und zugleich unmittelbar um mich selbst. Denn es bleibt wahr: "Meine Zeit ist mein Leben!"

Nachwort

Seit der Entwicklung der Ideen, die der Broschüre „Meine Zeit ist mein Leben!“ zugrunde liegen, sind nun mehr als 10 Jahre ins Land gegangen. Im Jahre 1991 haben Klaus Peters, Wilfried Glißmann und ich – unterstützt von vielen anderen – die Analyse der neuen Managementformen angefangen. Insgesamt etwa 10 Jahre lang haben wir uns damit beschäftigt. Am Ende dieser Beschäftigung standen eine Reihe Publikationen und Thesen, zu denen auch diese Broschüre der IG Metall gehörte.

Damals hatte ich den Eindruck, wir stünden damit vor einer Art Durchbruch. Und dieser Eindruck hat nicht getäuscht. Diese Gedanken und Analysen haben tatsächlich in gewisser Weise mehr Menschen erreicht, als es uns zunächst möglich schien. Aber es waren nicht die Menschen, um die es mir ging. Diese Überlegungen werden – verbunden mit anderen Namen, die dort eine wichtige Rolle spielen – in sozialwissenschaftlichen Kreisen diskutiert. Die Literatur scheint dazu inzwischen uferlos. Aber die Menschen, die es mit diesen Überlegungen zu erreichen gilt, sind nicht die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler. Es sind die unmittelbaren Produzentinnen und Produzenten in den Betrieben selbst. Leider werden sie mit diesen Überlegungen nicht oder doch zu wenig konfrontiert, obwohl alle, von denen ich höre, dass sie sich damit auseinandersetzen, das mit großem Gewinn tun. Es ist mitunter schmerzlich, zu sehen, wie solche Gedanken in Kreisen diskutiert werden, in denen andere Menschen durch die Form der wissenschaftlichen Methode und Diskussion zum Objekt von Studien herabgesetzt werden, Gedanken, die eigentlich im Gegenteil darauf abzielten, diese Menschen zum Subjekt ihres eigenen Lebens zu machen, zu Individuen, die sich ihr eigenes Leben aneignen. Aber die Trennung der Theorie von den Menschen ist nicht nur immer schon da, sie wird auch mit einer Macht betrieben, die es uns oft nicht möglich macht, den unmittelbaren Kontakt zu den Produzentinnen und Produzenten zu halten.

Nun aber erwacht eine neue Bewegung und drängt nach einer Theorie der neuen Formen der Arbeitsorganisation. Menschen, die diesem Bedürfnis nachgehen, werden auf die sozialwissenschaftlichen Studien treffen, in denen über die Menschen, die arbeiten, geredet wird. Dann sollen sie aber auch die Gelegenheit haben, das zu lesen, was sich an die Menschen, die arbeiten, selbst wendet. Das haben wir damals versucht mit den Überlegungen, die in „Meine Zeit ist mein Leben!“ formuliert sind. Damals haben sie die Produzentinnen und Produzenten bei IBM erreicht, soweit das in unserer Macht zu stehen schien. Und heute?

Stephan Siemens